Die amerikanische Psychologin Kristin Neff begann schon um die Jahrtausend-wende mit ersten Forschungsarbeiten zum Thema Selbstmitgefühl und mit dem Versuch, überliefertes buddhistisches Wissen in die westliche Psychotherapie zu integrieren. Sie bringt Selbstmitgefühl hauptsächlich mit den drei folgenden Elementen in Verbindung:
Wer sich mit Selbstmitgefühl begegnen kann, ist besser geschützt vor Depressionen und Angststörungen. Wir kommen mit den Widrigkeiten des Lebens besser zurecht und können auch mal eine Niederlage verkraften. Selbstmitgefühl ist nach meiner Erfahrung eine zentrale Fähigkeit, die darüber entscheidet, ob wir ein freudvolles und zufriedenes Leben führen können. Wer gegen sich selbst kämpft und sich verurteilt, der leidet gezwungenermaßen. Wer sich hingegen annimmt und liebevoll mit sich umgeht, dem wird es deutlich besser ergehen, selbst wenn das Leben unangenehme Herausforderungen für ihn bereithalten sollte.
Außerdem ist Selbstmitgefühl ein Schlüsselelement, um Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Wer gerne abnehmen möchte, das Rauchen aufgeben will oder konsequent für eine Prüfung lernen muss, der versucht sich in der Regel für seine Ziele selbst zu disziplinieren und geht streng mit sich um. Wenn es mal doch nicht so klappt mit dem Diät halten, dann verurteilen wir uns meistens dafür - in der Hoffnung, es beim nächsten Mal besser hinzukriegen. Doch genau das ist ein folgenschwerer Irrtum: Wer sich für seine Schwächen verurteilt, überwindet die eigenen Schwächen nicht leichter, sondern tut sich schwerer. Wer also in seinem Leben etwas verändern möchte, sollte sich nicht allzu hart an die Kandare nehmen, sondern stattdessen wohlwollend und nachsichtig mit sich umgehen. So erreicht man die Dinge leichter, die einem wichtig sind.
Die gesamte westliche Psychologie und Psychotherapie war sich in den letzten Jahrzehnten darin einig, wie wichtig es ist, das Selbstwertgefühl von Menschen zu stärken. Menschen sollten sich ihres Wertes bewusst sein, sie sollten wissen, worauf sie stolz sind, was sie besonders gut können, worin sie besser sind als andere. Dabei gilt: Besitz und Status erhöhen das Selbstwertgefühl und stärken die Person. Wer es in der Psychologieszene wagte, die heilige Kuh des Selbstwertgefühls kritisch zu hinterfragen, der machte sich nicht nur unbeliebt, sondern galt auch noch als unwissenschaftlich - zu erdrückend erschienen die Belege dafür, wie wichtig ein gutes Selbstwertgefühl für ein erfülltes Leben ist. Doch dieses Konzept hat in den letzten Jahren gewaltige Risse bekommen, um nicht zu sagen, das ganze Konzept ist gerade dabei, völlig in sich zusammen-zubrechen.
Ein hohes Selbstwertgefühl, so wissen wir nämlich heute, geht auch einher mit einer geringen Fähigkeit, berechtigte Kritik anzunehmen und mit dem Risiko, ein selbstbezogener und selbstverliebter Narzisst zu werden, dem es nur um das eigene Glück geht. Vor allem aber ist das Selbstwertgefühl nur ein „Schönwettergefühl“: Wenn es einem gut geht, wenn die Dinge gut laufen, wenn man erfolgreich ist oder viele Begabungen hat, dann kann man es sich erlauben, auf das Selbstwertgefühl zu setzen. Doch spätestens wenn nicht mehr alles rund läuft, dann zahlt man einen verdammt hohen Preis. Denn plötzlich geht es einem mies, weil der Selbstwert von Erfolg und vom Übertreffen anderer abhängig ist. Wer sein ganzes Leben lang an seinem hohen Selbstwert gebastelt hat und dann arbeitslos oder berentet wird, Falten bekommt, krank wird und nicht mehr so viel leisten kann, der erleidet einen deutlichen Selbstwertverlust und kann depressiv und unglücklich werden. Nach allem, was wir heute wissen, ist es daher gar nicht wünschenswert, ein möglichst hohes Selbstwertgefühl zu haben, sondern in der Lage zu sein, Mitgefühl mit sich selbst aufzubringen.
Auch für mich gab es lange keinerlei Zweifel an diesem Konzept. Ich habe 15 Jahre mit psychiatrischen Klienten gearbeitet, die aufgrund ihrer oft schweren psychischen Erkrankung nicht in der Lage waren, in unserer Gesellschaft so zu funktionieren, wie sie es sich gewünscht hätten. Viele hatten keinen bezahlten Job, sondern wurden frühzeitig berentet und viele von ihnen lebten allein, ohne Partner und ohne Familie. Wer in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet, von der Grundsicherung leben muss und als 40-Jähriger in einer kleinen Studentenbude wohnt, der hat fast zwangsläufig ein geringes Selbstwertgefühl. Meine Klienten drückten ihr Erleben von Minderwertigkeit auch aus. Sie sagten beispielsweise: „Ich bin doch gar nichts wert“ oder „Wer will mit jemandem wie mir schon was zu tun haben?“ Lange habe ich nicht erkannt, dass das eigentliche Problem in dem letztlich unmenschlichen Selbstwertkonzept liegt. Stattdessen habe ich versucht, das Selbstwertgefühl meiner Klienten aufzumöbeln. Der Klient sollte sehen, dass seine Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte doch auch einen Wert hat oder dass auch er Dinge beherrscht, auf die er stolz sein kann. Doch tief im Inneren wusste ich, dass das nicht wirklich funktionieren konnte. Wie würde es mir ergehen, wenn ich in einer Werkstatt für behinderte Menschen für wenig mehr als einen Euro pro Stunde arbeiten müsste? Höchstwahrscheinlich würde ich mich genauso degradiert und ausgeschlossen fühlen wie meine Klienten.